Noch mit dem letzten Bissen im Mund schon wieder unterwegs.
Kennst du das?
Getrieben von Erledigungen und diesem Impuls, der sagt: Jetzt! Sofort! springe ich hin und wieder schneller vom Tisch auf, als mir lieb wäre. Manchmal wird es mir auch erst nach ein paar Schritten bewusst: Ich bin ja noch am Kauen!
Nicht jedem Impuls müssen wir folgen, das ist wohl eine meiner wichtigsten Erkenntnisse im Zusammenhang mit meiner Achtsamkeitspraxis. Voraussetzung dafür ist, dass wir den Impuls als solchen erkennen. Im Hinblick auf Essen zeigen sich so viele meiner Verhaltensmuster, dass ich manchmal dabei schmunzeln muss. Schon meine Sitzhaltung verrät mir, mit wie viel Hingabe ich bereit bin, mich auf das Essen einzulassen: Wenn ich mich schräg, quasi absprungbereit, an den Tisch setze, ist es Zeit, mir Zeit zu nehmen. Mich meinem Essen zuzuwenden. Bereit, die Sinnlichkeit auf dem Tellerrand zu entdecken. Vermutlich haben die Tomaten & Co. einen langen Weg hinter sich, Zeit sie gebührend zu begrüßen! Es ist schließlich nicht selbstverständlich, dass mir all das zur Verfügung steht – in Reih und Glied in der Gemüseauslage auf mich wartet. Einige Menschen und Maschinen und die Natur selbst sind beteiligt an dem Weg, den die Zutaten nehmen, bis sie schließlich als Nahrung auf meinem kleinen, bescheidenen Tellerchen landen. Und von diesem Moment bis zum letzten Bisschen, darf ich genießen.
Genuss vergraben unter Nachrichten und Gedanken
Hin und wieder erledige ich gerne sieben Dinge auf einmal, gleichzeitig und geschwind. Und letztlich keines davon mit voller Präsenz, denn wie könnte es, wenn zur etwas selben Zeit noch sechs weitere aktiv sind? Von der Anstrengung mal ganz abgesehen: Essen und nebenbei arbeiten, fernsehen, am Handy oder mit den Gedanken weit, weit weg. Dass das nicht so sein muss, oder zumindest, dass mich mehrere Aktivitäten auf einmal nicht zwangsläufig unter Druck setzen müssen, lerne ich – von Moment zu Moment. Ich lerne, auf diese hektischen Impulse nicht reagieren zu müssen, sie beobachten zu dürfen. Und das spiegelt sich auch in meinen Selbstgesprächen wider: Ich muss auf diesen inneren Druck nicht stante pete reagieren und auch nicht auf diese fleißigen Gedanken, die mir dies und jenes als die allumfassende Wahrheit darstellen wollen. So gehe ich nämlich sonst schnell mal inmitten von Gedankenspiralen, irgendwo in meinem Kopf verloren. Da ist dann Vorsicht geboten!
Ein manches Mal beim Essen fällt mir auf, wie ich gerade eine Gabel in den Mund geschoben habe und schon die nächste im Anschlag habe. Als wollte die Gabel sagen: Los! Kau mal schneller!
Keine Zeit für Stress
Ich lege die ungeduldige Gabel zur Seite. Jetzt habe ich nämlich keine Zeit für Stress!
Kauen, auf der rechten Seite, mal auf der linken Seite. Vielleicht nicht unbedingt 36 Mal aber 18 Mal bei vollem Bewusstsein ist auch keine ganz schlechte Bilanz. Der Geschmack entfaltet sich mit jedem Bisschen. Steigt mir in die Nase und schiebt die Mundwinkel Richtung Ohren. Mein Bauch stimmt dem gluckernd zu. Wie bedauerlich, wenn dieser Geschmack unter Nachrichten auf meinem Handy begraben worden wäre!
Heute gibt es Spaghetti – ist dir schon mal aufgefallen, wie unkontrolliert diese langen, zierlichen Teigwunder durch den Mund sausen? Beeindruckend!
Wie beschreibe ich Konsistenz und Geschmack, ohne die Zutat beim Namen zu nennen: Wie beschreibe ich eine Spaghetti, ohne „Spaghetti“ zu sagen?
Die nächste Gabel und die nächste Gabel und die nächste… Dann passiert es: die tüchtigen Gedanken wandern ab – zum Nachtisch, zum Gespräch von gestern, zum Abwasch nachher, der Blick sucht das Handy, wo ich doch eigentlich achtsam essen wollte. Das passiert – die Gedanken tun, was sie eben tun, kein Grund streng zu mir selbst zu werden. Ich lenke die Aufmerksamkeit ohne großes Drama zurück, einfach wieder zu den Spaghetti, zu den Farben im Teller, zum Geräusch der drehenden Gabel am Tellerrand. Ein Moment bei den Sinnen, kann ein Moment frei von Gedanken sein.
Oh. Also bis jetzt. Zwischen den Spaghetti entdecke ich eine Kaper. Der Anblick löst Abwehr aus, kurz sinkt die Laune, bin ich doch der Meinung, dass ich Kapern nicht mag.
Eine Kaper und ein Seeigel in einem Team
Wie aber noch nicht mal eine Kaper meinem Genuss etwas anhaben kann, wenn ich auch diesem kleinen, dunklen kugelförmigen Stück Natur mit Interesse und Neugierde begegne: Was löst die kleine Kaper in mir aus? Und kann ich sie schmecken, abseits des Urteils, dass ich sie nicht mag? Und entspricht es überhaupt noch der Wahrheit, dass ich sie nicht mag? Oder spielt mir da meine Erinnerung einen Streich? Sozusagen ist das Interesse ein Schlüssel zu Gleichmut.
Der Geschmack mischt sich mit den weiteren Zutaten in der Sauce und alles in allem, stelle ich erstaunt fest, macht es Sinn! Das Ende naht, ich werde wehmütig. Die restliche Sauce im Teller sieht aus wie ein Seeigel – ob er wohl auch satt geworden ist? Bin ich satt? Oder bin ich satt und möchte aus Genuss noch einen Nachschlag? Oder möchte ich einfach nur Nachschlag, weil die Portion eigentlich zu klein ist, um sie aufzuheben? Bewusstsein in meine Entscheidungen zu bringen und die innere Reaktion darauf zu beobachten, hilft mir mich zu sortieren, mich kennenzulernen und wohlwollend handeln zu können.
5 Impulse: Was kann dabei helfen, Essen und Achtsamkeit zu verbinden?
- Frei von Nebenbeschäftigungen
Handy, Fernseher, Zeitung, für diesen Moment jetzt muss nichts so interessant sein wie das Essen selbst. Letztlich esse ich unterbewusst sozusagen das mit, womit ich mich beschäftige: Wenn ich schlechte Nachrichten lese, zieht sich mein Magen zusammen. - Mit Interesse
Was sehe ich im Teller? Wonach duftet es? Wie fühlt sich das Brot in der Hand an, wie die Traube im Mund? Wie klingt die Karotte? Was kann ich schmecken? Welche Assoziationen, welche Gedanken tauchen dazu auf? - Die Portion anzupassen
In einer bewussten Entscheidung aufzuhören, wenn es genug ist und nachzunehmen, wenn es mir gut tut. Angepasst an mein Hungergefühl, meinen Appetit und Gesundheitszustand. - Volle Hingabe
Mich einzulassen, mich dem Essen zuzuwenden mit all meiner Aufmerksamkeit. Und den letzten Bissen dabei nicht unter den Tisch fallen zu lassen. Die Empfindungen und Geschmackserlebnisse lassen sich auch wunderbar mit anderen am Tisch teilen. - Nicht selbstverständlich!
Eine Anerkennung für die Nahrung, die nach einem langen Weg und unter Einsatz vielerlei Ressourcen auf meinem Teller gelandet ist.
Der Teller ist leergeputzt, die Sinne sind satt, im Körper setzt eine angenehme Schwere und Zufriedenheit ein. Ein Moment, in dem es einfach so sein darf wie es gerade ist, ohne aufspringen zu müssen, den Körper nun seine Arbeit tun zu lassen. Wie wenig es für Zufriedenheit braucht. Und letztlich geht es nie nur ums Essen, nicht wahr?
Es ist eine Metapher: Für den Genuss, der entstehen kann, wenn ich mich etwas zuwende; für die Hektik, auf die ich mich nicht einlassen muss; für die Vorurteile gegenüber Kapern und anderen Begegnungen, von denen ich mich durch echtes Interesse abwenden kann. Wie wir essen, so leben wir. Ein gefüllter Teller ist eine wunderbare Spielwiese für Bewusstwerdung, für Dankbarkeit, die Pflege neuer Konditionierungen und eine Werkstatt für die Sinne.
Denn ein Moment bei den Sinnen, kann ein Moment sein, frei von Gedanken.
Text von: Catharina Guth
Achtsamkeitstrainerin & MBSR-Lehrerin

